Wie hat sich die Rolle von Aufsichtsräten im Laufe der Zeit verändert?

 

Das Amt des Aufsichtsrates gibt es seit 1870 – ich selbst bin seit etwas mehr als fünf Jahren in Aufsichtsräten tätig. Heute gehe ich aber weder auf die gesamte Geschichte dieser Institution noch auf die kurze Zeit meiner eigenen Erfahrungen in diesem Bereich ein. Stattdessen konzentriere ich mich auf die vergangenen 20 bis 50 Jahre. In dieser Zeit hat sich nicht nur das Aufgabenspektrum von Aufsichtsräten verändert – sie müssen auch mehr Vorschriften berücksichtigen als früher.

Ich konzentriere mich heute auf das deutsche duale System (Vorstand und Aufsichtsrat als zwei getrennte Organe). Trotzdem sei gesagt, dass viele Entwicklungen auch in ähnlicher Form im angelsächsischen einstufigen System (ein Vorstand mit „operativen“ und „nicht-operativen“ Direktorinnen und Direktoren) auftreten, wobei die angelsächsischen Länder oft etwas fortschrittlicher operieren als Deutschland.

Werfen wir also einen Blick zurück auf die deutschen Aufsichtsräte von vor 20 Jahren: Aufsichtsräte standen kaum im Fokus der Öffentlichkeit. Sie waren recht homogen und setzten sich aus ehemaligen oder aktuellen Konzernchefs zusammen. Außerdem waren ihre Mitglieder überwiegend weiß und deutsch. Die Ausübung mehrerer Ämter gleichzeitig war nicht unüblich; selbst operative Aufsichtsratsmitglieder durften bis zu sieben weitere Mandate wahrnehmen. Daher konnten viele Mitglieder zwangsläufig nur eine begrenzte Zeit in ihre Arbeit im Aufsichtsrat investieren.

Um es auf den Punkt zu bringen: Damals waren Aufsichtsratsmitglieder nur in geringem Maße in wesentliche Unternehmensentwicklungen eingebunden. Vielmehr hörten sie sich viermal im Jahr Präsentationen an und stimmten gemäß den Empfehlungen des Vorstands und des Aufsichtsratsvorsitzenden ab. Der Aufsichtsratsvorsitzende war häufig zuvor Vorstandsvorsitzender gewesen; von „Cooling off“ war noch nicht die Rede. Die Kultur war von Harmonie, Konsens und Kontinuität geprägt. Seitdem hat sich viel verändert, und durchgreifende Aufsichtsräte bilden keine Ausnahme mehr.

Was sind weitere spürbare Veränderungen? Neue Vorschriften, Gesetze und der Deutsche Corporate Governance Kodex stärken die Position der Aufsichtsräte. Aufkommende Megatrends schaffen neue Aufgabenfelder und Ansprechpartner. Aufsichtsräte tragen mehr Verantwortung und haben damit auch mehr Pflichten. Zudem hat sich ihre Zusammensetzung verändert, ein Aspekt, auf den ich im Folgenden eingehe.

Die Aufsichtsfunktion des Aufsichtsrates

In den USA basiert die Beziehung zwischen den Mitgliedern des Aufsichtsrats (oder besser gesagt den nicht operativ tätigen Direktoren) und dem Vorstand traditionell auf dem Grundsatz: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Ein vertrauensvolles Verhältnis ist demnach unerlässlich, trotzdem überprüft der Aufsichtsrat die Prozesse und Verfahren des Vorstands.

Die Richtlinien zur Gewährleistung ordnungsgemäßer Verfahren wurden in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Dies gilt insbesondere für das Compliance-Management-System, das Risikomanagement-System, das interne Kontrollsystem und das interne Audit-System. Der Aufsichtsrat ist dabei nicht dafür zuständig, das Funktionieren dieser Systeme im Einzelfall zu prüfen, sondern vielmehr sicherzustellen, dass sie als Ganzes funktionieren. Trotzdem muss er die Kohärenz der Systeme gewährleisten: Die im Risikobericht aufgeführten Mängel müssen folglich auch im Hinblick auf ihre Verbesserung überprüft werden.

Die Kontrollfunktion ist eine der wichtigsten des Aufsichtsrates. Doch seine Pflichten gehen weit darüber hinaus: Seine Mitglieder beraten den Vorstand. Sie bringen ihren Sachverstand aus anderen Fachbereichen oder Unternehmen ein und helfen so dem Vorstand seine Arbeit und damit auch die Unternehmensführung zu verbessern. Meiner persönlichen Erfahrung nach ist dies im einstufigen System einfacher als im deutschen zweistufigen System: Im einstufigen System sind die nicht operativ tätigen Direktoren Teil des Teams. Im zweistufigen System unterstreicht schon der deutsche Name „Aufsichtsrat“ die eher passive überwachende Tätigkeit.

Mehr Pflichten für Aufsichtsratsmitglieder

In den vergangenen zwanzig Jahren wurden zusätzliche Gesetze im Hinblick auf die Pflichten der Aufsichtsratsmitglieder erlassen. Da Aufsichtsräte kontinuierlich mehr Einfluss und erweiterte Mitbestimmungsrechte bekamen, waren entsprechende Pflichten der nächste logische Schritt. So verpflichtet das Gerichtsurteil ARAG 1997 Aufsichtsräte dazu, zu prüfen, ob das Handeln des Vorstands dem Unternehmen schadet und inwieweit dessen Mitglieder zur Verantwortung gezogen werden sollten. Eine weitere wichtige Neuerung ist die Business Judgement Rule (UMAG 2005). Sie verpflichtet Vorstand und Aufsichtsrat, sich grundlegend über die aktuelle Situation des Unternehmens zu informieren.

Natürlich können sich Gegebenheiten situationsbedingt ändern, aber die Gesetze sollen verhindern, dass Gremien schlechte Entscheidungen treffen, weil sie verfügbare Informationen ignoriert haben. Außerdem kann der Aufsichtsrat für die Gewährung unangemessener Vergütungen an Vorstandsmitglieder haftbar gemacht werden. Unklar ist und bleibt hier allerdings die Definition von „unangemessen“.

Stärkere Regulierung und der Einfluss des Deutschen Corporate Governance Kodex

Die wichtigsten Regelungen bezüglich des Aufsichtsrates betreffen dessen Zusammensetzung. Die Beteiligung der Arbeitnehmervertreter und die Umsetzung einer Frauenquote im Aufsichtsrat stehen hier besonders im Fokus. Wichtig ist, dass der Kodex auch die langfristige Handlungsfähigkeit des Unternehmens als Aufgabe des Aufsichtsrates thematisiert. Frühere Diskussionen über die Bedeutung des Themas Nachhaltigkeit in einem Unternehmen sind somit obsolet. Insgesamt zeichnet alle Regelungen aus, dass sie die Mitglieder des Aufsichtsrates zwingen, ihre Arbeit und Entscheidungen transparent zu machen.

Neue Kontakte für den Aufsichtsrat

Neue Aufgaben führen zwangsläufig zu einer Erweiterung des Netzwerks der Aufsichtsratsmitglieder, zum Beispiel zu Finanzprüfern und -prüferinnen: Früher prüften sie den Jahresabschluss für den Vorstand, jetzt beraten sie zusätzlich den Aufsichtsrat. Ich erinnere mich an Sitzungen, in denen der Finanzprüfer nur über die Aktivitäten des Finanzvorstandes berichtete. Heute kann er beratend eingreifen.

Aufsichtsratsvorsitzende stehen erst seit Kurzem in direktem Kontakt zu Investorinnen und Investoren. Das wiederum wirft neue Fragen auf, die geklärt werden müssen, etwa wie sichergestellt werden kann, dass kein Investor bevorzugt behandelt wird. Andererseits wollen Anlegerinnen und Anlegern natürlich wissen, nach welchen Kriterien die Aufsichtsratsmitglieder ausgewählt und entlohnt werden. In einem der Aufsichtsräte, in denen ich tätig bin, erläutert zum Beispiel der Vergütungsausschuss den Anlegern die Vergütung der Vorstandsmitglieder. Eine weitere neue Entwicklung ist die zunehmende Präsenz von aktiven Investoren im Aufsichtsrat.

Dies kann sich positiv auf die Arbeit des Aufsichtsrats auswirken, da diese Ratsmitglieder oft konstruktive Diskussionen entfachen. Es kann aber auch zu Dilemmata in der Gremienarbeit führen: Wie geht man als Aufsichtsratsmitglied beispielsweise mit aktiven Investoren um, deren Ziel die Steigerung des Gewinns pro Aktie ist? Oder die Aktienrückkäufe und die Weitergabe von Vorteilen der Anleger fordern, obwohl diese mehr Nutzen von einer Investition haben könnten?

Neue Themen

ESG oder Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit ist in den vergangenen zwei Jahren zu einem sehr wichtigen Thema avanciert. Vorher war nicht einmal definiert, inwieweit Vorstand oder Aufsichtsrat diese „nicht finanzielle Berichterstattung“ übernehmen. Da erkannt wurde, dass die Investition in Nachhaltigkeit auch unternehmerische Risiken birgt, hat sich die Priorität des Themas deutlich verschoben.

Unternehmenskultur

Während sich in der Vergangenheit kaum ein Unternehmen zielgerichtet mit der Entwicklung seiner Unternehmenskultur befasst hat, gewinnt dieser Aspekt zunehmend an Bedeutung. Kein einfaches Thema, denn zunächst ist es schwierig, die Unternehmenskultur auf die Vision des Unternehmens auszurichten. Grundlegende Fragen sind schwer zu beantworten: Wie definiert das Unternehmen seine Kultur? Wer definiert sie überhaupt? Welche Kultur strebt das Unternehmen an? Außerdem ist es nicht einfach für den Aufsichtsrat, die Unternehmenskultur aus der Distanz zu beurteilen. Trotzdem sind sich inzwischen alle Beteiligten weitestgehend einig, dass eine negativ bewertete Unternehmenskultur zu einem echten Risiko für das Unternehmen werden kann. Mitarbeiterbefragungen, Gespräche und Filialbesuche sollen dem entgegenwirken. Das duale System ist für eine Bewertung besser geeignet, zumindest wenn auch Vertreter der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Aufsichtsrat sitzen.

Cybersicherheit und Digitalisierung

Sicherheitslücken in IT-Systemen und in Bezug auf sensible Unternehmens- und Kundendaten stellen ein hohes Risiko für moderne Unternehmen dar. Aufgabe der Aufsichtsratsmitglieder ist, dafür zu sorgen, dass ihr Unternehmen geeignete Schutzsysteme installiert und anwendet. Da es unmöglich ist, absolute Sicherheit zu garantieren, muss der Aufsichtsrat prüfen, welche Prozesse im Falle eines Cyberangriffs greifen, um die Kontrolle über eine Gefahrensituation zu behalten.

Digitalisierung und die Miteinbeziehung neuer Technologien in den Unternehmensalltag spielen ebenfalls eine wichtige Rolle: Ein Unternehmen, das seinen Mitbewerbern hier unterliegt, gefährdet sein Fortbestehen. Gleichzeitig bietet eine schnelle Implementierung neuer Technologien in das Tagesgeschäft eine große Chance, sich vorteilhaft gegenüber konkurrierenden Unternehmen zu positionieren. Der Aufsichtsrat kann und muss den Vorstand ermutigen, hier neue und unkonventionelle Wege einzuschlagen.

Zusammensetzung

Ein guter Aufsichtsrat ist offen für Vielfalt. Geschlechtervielfalt allein reicht nicht aus: Nur Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen können wirklich unterschiedliche Perspektiven austauschen und so ausgewogene Entscheidungen fällen. Aufsichtsräten, die an veralteten Normen festhalten, wird kein kultureller Wandel gelingen.

In der Vergangenheit war es üblich, dass der Vorstandsvorsitzende die gleichen Ansichten und Arbeitsweisen wie der Aufsichtsrat vertrat. Gerade deswegen wurde der Vorstandsvorsitzende oft zum Nachfolger des Aufsichtsratsvorsitzenden. Inzwischen wurde die „Cooling-off“-Periode eingeführt, um einen gewissen Grad an Distanz zwischen den Funktionen zu etablieren.

Unabhängigkeit

Gut funktionierende Verwaltungsräte zählen auch „Unabhängige“ zu ihren Mitgliedern, die keine vorherige Erfahrung aus Verwaltungsräten besitzen und keine Großinvestoren sind. Da sie nicht zu tief in das Unternehmensgeschehen eingebunden sind, fällen sie Urteile und erteilen Ratschläge, ohne in Interessenskonflikte zu geraten. Trotzdem sollte nicht der gesamte Verwaltungsrat aus solchen unabhängigen Mitgliedern bestehen, da ehemalige Mitarbeiter und Ankerinvestoren wertvolles Hintergrundwissen beisteuern.

Ein kulturell diverser Verwaltungsrat bringt zwangsläufig eine neue Form der Zusammenarbeit mit sich, denn in einem weitgehend homogenen Gremium treten kaum Kontroversen auf. Gerade in Zeiten schnellen Wandels, globaler Herausforderungen und steigender Anforderungen an Unternehmen sind kontroverse Diskussionen, die zu konstruktiven Lösungen und Entscheidungen führen, ein wichtiger Erfolgsfaktor.

Fazit

Die Rolle des Aufsichtsrates wird sich stetig weiterentwickeln. Seine Mitglieder müssen sich auf mehr kontroverse Diskussionen einstellen, die in konstruktiven Lösungen resultieren können. Investoren verlangen zudem eine transparente Arbeitsweise der Aufsichtsratsmitglieder. Aus diesen Gründen müssen sich Aufsichtsräte klare und messbare Ziele setzen.

Aufsichtsräte müssen sich zukünftig auf noch stärkere Kontrollen ihrer Arbeit einstellen. Entsprechend ziehen Fehler oder das Fehlverhalten der Mitglieder härtere Konsequenzen nach sich. All diese Aspekte gestalten die Arbeit der Aufsichtsräte anspruchsvoller, aber auch interessanter.

Dieser Text beruht auf einem Vortrag, den ich am 14.11.2019 an der LMU München gehalten habe.

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